Abriss

Montag, vierte Stunde, Chemie. Neben mir Anne, die nach der vierten Stunde aus hat. Ich bin neidisch auf Anne. Durchsage. Achtung eine Durchsage. Die K12 trifft sich heute in der fünften Stunde zu einer Besprechung in Raum 207. Anne signalisiert mir, dass sie da nicht gut fände, schließlich könne sie somit a) nich nach Hause und b) der Lehrerin keine weitreichenden Fragen zur Bioklausur am darauffolgenden Tag stellen. „Tja“, sage ich, und kritzel einen neuen Eintrag in meine Auflistung überflüssiger Anglizismen im Chemie- und Biounterricht.

Pause. Unter dem Vertetungsplan hängt noch einmal ein Hinweis auf die Besprechung, nicht persönlich von unserem Betreuungslehrer unterschrieben. Es sieht nach schneller Organisation aus. Vor der Treppe steht ein Gruppe Schüler. Ich stelle mich dazu. Es geht um die spontane Besprechung. Kollektive Standpauke ist die allgemeine Annahme. Ob unsere Stufe vielleicht zuviel schwänze? Und die beiden Schüler, die sie aus dem Unterricht geholt haben, haben die was angestellt? „Wir bräuchten Columbo“, sagt Benni. „Vor fünf Jahren haben diese beiden..“, beginne ich, „In Uruguay ein U-Boot gemietet,“ beendet er.
Kurz vor der Besprechung brauchen sie Leute zum Stühle rücken. Ein paar Schüler gehen in den Besprechungsraum, der Rest bleibt draußen stehen. Steffi, mit der ich gerade zur Tür ein bin versicherte, sie würde mir einen Platz freihalten, während wir, der Rest der Stufe, draußen warten würden.
Wir stehen draußen. Dummes Gewitzel, das aus dem Willen, das schlechte Gefühl, das sich ausbreitet, abzuschwächen. Wir betreten den Raum. Steff zieht mich auf die Seite. „du, ich glaub es ist wirklich was Schlimmes passiert,“ sagt sie „Die eine Lehrerin hat grad dem Benni irgendwas gesagt und dann ist er zusammengebrochen.“ Klingt nicht gut. Ich setze mich neben Steffi, vor uns Julia. „Es ist wahrscheinlich wirklich einer gestorben,“ sagt Steffi zu mir. Ich bin in dem Moment ohnehin schon nicht mehr ganz antwortfähig. Mir ist kotzübel. „Ach Schmarrn“, sagt Julia „Es ist nicht passiert. Wer soll den gestorben sein?“ Steffi erwähnt Dominik, der heute nicht da sei und mit sowohl den beiden aus dem Unterricht geholten Schülern als auch Benni befreundet war. Der Dominik, der sieben Jahre mit uns in einer Klasse war. Bei uns, die wir unter anderen Schülern oft „Die coole Klasse“ waren. „Ach Schmarrn“, sagt Julia „Ich war gesten noch mit dem beim Fußballschauen. Der hatte heute nur keinen Bock.“

Lehrer tauchen auf. Die Direktorin auch. Die Schulpsychologin. Zwei Relilehrer. (Relilehrer? Kein gutes Zeichen.) Sie stellen sich vor als das Kriseninterventionsteam. Die Direktorin steht vor uns. Falscher Film. Sie sagt, dass sie es bedauere uns mitteilen zu müssen, dass unser „Mitschüler und Freund..“ und dann macht sie eine Pause. Mein Puls ist irgendwo ganz weit oben, ich fühle mich, als würde mein Herz in der Speiseröhre stecken, pulsierend-kotzübel. Irgendwie hätte ich gerne, dass sie einen Namen sagt, den ich noch nie gehört hatte, aber gleichzeitig behauptet mein schlechtes Gefühl stur das Gegenteil. „..Dominik diese Nacht ums Leben gekommen ist.“

Um mich herum brechen Schüler in Tränen aus, sogar die, die definitiv nicht nah am Wasser gebaut sind. Ich bin mit Starren beschäftigt, etwas unfähig in Gesellschaft zu heulen und außerdem ohnehin ein Versager, wenn es ums Realisieren geht.
Es wird uns gesagt, der Rest der Schule würde in der sechsten Stunde per Durchsage informiert, bis dahin sollten wir es erst einmal niemandem erzählen. Sie, das Kriseninterventionsteam sei für Gespräche da und man hätte uns außerdem einen Raum freigehalten.

Ich selbst mit meiner Realisationsblockade gehe erst einmal aus dem Schulhaus raus. Ich will nicht der Dummschauende zwischen meinen weinenden Mitschülern sein. Ich bleibe kurz in der Aula zwischen Anderen stehen, als die angekündigte Durchsage kam und kaue verstört auf meiner Lippe herum, als der unsensibelste unfreundlichste unsozialste Mensch, den ich persönlich kenne, mit einer großen orangen Kerze einen Schulaufgabentisch zum Altar macht.

 

Und seit dem sind wir alle ein wenig neben der Spur.

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